Der gekreuzigte Jesus -Ein paar Gedanken

Ich lasse das kleine rote Schulheft in meinen Schoß sinken. „Nächstes Jahr werde ich nicht mehr zur Schule gehen. Meine Großmutter sagt das Schulgeld sei zu teuer. Ich werde auf dem Feld arbeiten“ schreibt Viola mit 14. „Manchmal wissen wir nicht was wir anziehen und was wir essen sollen. Meine Mutter weiß nicht was sie tun soll“ Sudais 13 „Ich habe meine Geschwister zuhause gelassen. Meine Mutter ist gestorben und mein Vater ist abgehauen um Geld zu verdienen. Aber ich muss doch in die Schule gehen um zu lernen!“ Steven, 14 „ Im Sommer hat uns jemand Stifte und Hefte geschickt. Danke Für alles was Sie für uns machen!“ die Worte der Grundschüler treffen mich bis ins Herz. Ich kenne die Kinder nur von Fotos. Lachend in ihren Orangenen Uniformen. Wenn ich über das Klischee  „Afrikanische Schulen“ referieren würde, dann wäre diese Dorfschule in Birinzi vermutlich das ideale Beispiel gewesen. Die Kinder laufen Barfuß und der Boden der Schule ist, naja was soll ich sagen, er ist quasi nicht vorhanden. Die Mauern der Schulgebäude wurden einfach auf den Staubigen Sand gebaut. Es gibt keine Fenster und wenn es regnet fällt der Unterricht aus weil das Blechdach so viele Löcher hat. Aber die Kinder die hier in den gespendeten Bänken sitzen haben Träume. In ihren Geschichten erzählen Sie davon dass sie Ärzte und Richterinnen werden wollen.  Sie wollen Schulen bauen und ein eigenes Krankenhaus besitzen. Ein Junge erzählt wie gerne er eine indische Frau heiraten würde und der ernste Brief eines Mädchen schildert dass sie sobald sie gut verdient ihren Lehrern etwas zurückgeben möchte, weil sie so viel für sie tun.

 

Die Geschichten der Kinder tun mir weh. Vermutlich deswegen am meisten, weil ich mit vierzehn kein Bock auf Schule hatte und ich heimlich vor dem Spiegel geübt habe mich mit der Wimpertusche meiner Mutter zu schminken. Auf dem Feld arbeiten anstatt zur Schule zu gehen? Ich hatte gewusst dass Kinder in anderen Ländern nicht zur Schule gehen können, aber sie waren so weit weg gewesen.

 

Aber diese Kinder hatten in Deutsche Hefte geschrieben. Ich hatte vor ein paar Monaten 100 Hefte und 100 Kulis geschickt und jetzt hielt ich die kleinen Dina5er in den Händen in die Grundschüler mit gebrochenem Englisch und ihrer krakeligen Handschrift mitten aus ihrem Leben erzählten. „Suche dir eine Geschichte heraus. Ich habe den Kindern gesagt, dass es ein Wettbewerb ist. Die beste Geschichte gewinnt einen Term Schulgeld. Magst du?“ Julius hatte mir die Hefte in die Hand gedrückt. Nachdem ich alles gelesen hatte war ich ersteinmal sehr still. Dann aß ich eine ganze Menge Schokolade. Es waren diese Fragen die sich vielleicht jeder einmal stellt wenn er nach Uganda kommt. Warum haben wir in Deutschland alles und hier fehlt es an so Grundsätzlichem? 35 Euro Schulgeld pro Term. Und die sind nicht da? Das ist in Deutschland ein Restaurantbesuch mit Getränk für einen Abend. Wenn ich mir das vor Augen führe dann macht sich eine Wut in mir breit. In meinem Freiwilligendienst werde ich auch damit konfrontiert. Es ist schön mit den Kindern hier zu lachen und zu spielen, es macht Spaß an der Projektschule zu unterrichten es war ein berauschendes Erlebnis im Club von Masaka zu tanzen und ich liebe die Sonnenaufgänge über dem unglaublichen Grün der Plantagen. Aber ganz präsent ist auch die andere Seite dieses Landes und als ich die Geschichten las warfen sie Fragen in mir auf. Nicht nur die Schulkinder in Birinzi sind bitterarm. Die Armut ist allgegenwärtig sobald ich Kamukongo verlasse.

 

Ich dachte ich an die Straßenkinder die nachts nicht einmal wissen wo sie schlafen sollen. An Lara* aus dem Kamukongo Projekt die von ihrer eigenen Mutter an Männer verkauft wurde ehe sie in Kamukongo aufgenommen wurde. Ich dachte daran dass Julius keine Krankenversicherung hat und das die dreijährige Florence mit der ich Abende lang im lachend und singend im Kreis  getanzt bin an Aids sterben wird wie Millionen andere Kinder in Uganda. An David der das Kind einer Vergewaltigung ist und schon auf der Straße geboren wurde. An den sechzehnjährigen Imran der träumt einmal im Leben in einen Zoo zu gehen und andere Tiere zu sehen und Silvia die mit vierzehn von sich weiß dass sie die Hoffnung der Familie ist weil sie die einzige ist, die in die Schule geht.
Meine Jugendlichkeit in Deutschland mit Partynächten und Kinoabenden war auf einmal so weit weg. Ich weiß nicht warum ich mich in diesem Augenblick so erwachsen fühlte. Vielleicht weil ich hinsah und die Geschichten ernst nahm anstatt im Fernseher weiter zappen zu können. Vielleicht weil ich unmittelbar hier war und die Schule nur eine halbe Stunde entfernt von mir lag. Vielleicht spürte ich dadurch dass es deutsche Hefte waren und dadurch dass die Kinder sich für meine Kugelschreiber bedankten dass ich Stärke habe und Mittel. Und das meine Leute zuhause diese auch haben aber ihre Macht vielleicht noch nicht einmal kennen. Mir wurde klar dass ich keines dieser Kinder in der Schulbank bin sondern eine zwanzigjährige Deutsche die Bildung hat und Perspektive. Vielleicht spürte ich angesichts der großen Not der Kinder und mit der Aufgabe die Julius mir gegeben hatte auch einfach die Verantwortung das Kind heraus zu finden, dessen Not am größten ist und allen anderen abzusagen. Das Schulgeld für ein Jahr  sind grade mal 105 Euro. Gab es denn niemandem im reichen Deutschland der dafür aufkommen konnte? Damit Viola nicht nach der siebten Klasse auf dem Feld arbeiten muss? Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken irgendwie Schulgeld für  die vier Kinder zu organisieren die es am Nötigsten hatten. Aber gleichzeitig wusste ich nicht mehr wo ich anfangen und aufhören sollte. Die Straßenkinder, die Kinder in Kamukongo, die Schulkinder, alle brauchten Hilfe und Geld war auf einmal ein Wundermittel.

 

„Gott Wie kannst du das zulassen? Das der Rest der Welt diesem Leid  zuschaut und Afrika nur als Kontinent bedauert? Was schickst du mich hierher es anzusehen?“

 

Es fühlte sich für mich schmerzhaft ungerecht an. Wie ein kleines Kind quengelte ich meinen Gott an. Ich war eine zweijährige die zu ihrem himmlischen Vater rennt und die Ungerechtigkeit petzt. Er solle es doch bitte bitte gerecht zugehen lassen und Frieden und Freude auf der Erde machen weil es sich meine kleine naive Kinderseele so unbedingt wünschte. Als ich merkte wie sehr es in meinen Gebeten um mich ging und wie ungerecht ICH alles fand schwieg ich wieder. Ich hatte keine Worte deswegen tat ich das was meine ugandischen Geschwister hier in Kamukongo auch tun. Ich nahm den Rosenkranz der um meinen Hals hing und betete die alten vorgegebenen Worte. Ich betete auf Englisch weil ich die deutschen Worte nicht kenne. Aber ich betete den Rosenkranz rauf und runter bis ich das Gefühl hatte Gott wäre ganz nah und das machte mich ruhiger. Ich blickte auf das kleine Kreuz mit der Jesusfigur die als Anhänger an der Kette baumelte. Der sterbende junge Mann am Kreuz. Mit dem schmerzverzerrten Gesicht. Ich sah ihn auf einmal mit einem ganz anderen Blick an. Ich dachte immer Gott will dass es uns gut geht. Ich dachte seine große Botschaft wäre gewesen dass wir alle ein bisschen mehr wie Jesus sein sollten, dann wäre diese Welt friedvoller und irgendwann könnte man die Erde „Reich Gottes nennen“ weil es kein Leid mehr geben würde. Als ich in diesem Moment auf das Kreutz blickte sah ich vor allem den Schmerz in dem Gesicht der Jesusfigur. Jesus starb. Jesus litt. Seine Geschichte ist nicht nur eine Ostergeschichte auch wenn wir diesen Teil lieber lesen und verkünden. Vor der Ostergeschichte kommt der lange Kreuzweg. Ich betete den Rosenkranz weil mir die Worte fehlten für die Ungerechtigkeit der ich begegnete. Aber mein Kummer spiegelte sich in dieser Jesusfigur. Das Jesus ermordet wurde war auch nicht gerecht. Das Symbol der Christenheit ist nicht primär das Herz oder eine Sonne. Unser Symbol ist aus gutem Grund der leidende Jesus  am Kreuz und das spürte ich zum ersten Mal als ich über den zerknitterten Heften der Grundschüler betete. Das Wissen das Jesus um die Kinder weiß gibt mir Hoffnung. Er war selber hier in dieser Welt. Seine Hoffnung ist echt weil er echt erlebt hat wie hart diese Welt sein kann. Schon mit seiner brachialen Geburt in dem schmutzigen Stall in Bethlehem geht seine Wahrheit los. Ich bin mir sicher dass hier in Uganda die meisten Kinder eher so wie Jesus zur Welt kommen. In einer Lehmhütte neben den Tieren und dann werden sie in die Tücher gewickelt die die jungen Eltern finden können. Er hat gegen Ungerechtigkeit gekämpft, gegen Armut und Ausgrenzung hat sich mitten hinein gestellt so wie ich mich mitten hinein gestellt fühle wenn ich den Kindern ihre Geschichten zurückgeben werde. Jetzt liegen die Hefte noch in meinem Schoß und meine Hand umschließt das Kreutz dass um meinen Hals baumelt.